Matthias Seibt

Abstract:

Aus der Perspektive der Anti-Psychiatriebewegung setzt sich der Autor mit der Willensfreiheit und dem Wohl des Betreuten auseinander. Für Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose bedeutet der §1896 Absatz 1 BGB faktisch eine Entrechtung, sagt der Bundesverband Psychiatrie- Erfahrener (BPE). Im Vordergrund stehe der Schutz der Gesellschaft. Eine Betreuung zum Wohl der psychisch Kranken sei selten, meint der Autor. Im Gegenteil: Eine dauerhafte psychiatrische Behandlung verkürze drastisch die Lebenserwartung. Wann immer Menschen ihrer Rechte beraubt, bestohlen, eingesperrt, gefoltert und getötet werden, gibt es eine Rechtfertigung. Niemand begnügt sich zu sagen: Ich habe die Macht, es zu tun und daher tue ich es. Außerdem bringt es mir diesen und jenen Vorteil. Ich wäre doch dumm, meine Macht nicht zu nutzen. Immer gibt es Rechtfertigungen, die sich in behaupteten Eigenschaften oder Verhaltensweisen der Entrechteten begründen. Massive Propaganda sorgt dafür, dass diese behaupteten Eigenschaften oder Verhaltensweisen dann sowohl von Tätern als auch von Unbeteiligten geglaubt werden. Der bekannte deutsche Politiker und Demagoge Adolf Hitler wusste es: Was ständig wiederholt wird, das halten die Menschen irgendwann für wahr. Egal wie offensichtlich falsch, absurd oder verbrecherisch es ist. Die zwei wesentlichen Behauptungen, die die Entrechtung der „psychisch Kranken“ rechtfertigen, sind

  1. diesen Mensch fehlt die Einsicht
  2. diese Menschen sind gefährlich

Die Frage der Einsicht

So lange ein Mensch die Folgen der eigenen Handlungen überblickt (= einsichtig ist) hat dieser Mensch das Recht, selbstschädigend zu handeln. Er darf sein Geld verschwenden, seine Gesundheit schädigen, medizinische Behandlungen (auch lebensnotwendige) ablehnen; ja er darf sich sogar selbst töten. Aber auch die Gefährdung anderer wird hin genommen, so lange diese Einsicht gegeben ist. Man denke an Autofahrer bzw. Wirtshausschläger. Besonders das zweite Beispiel ist sehr erhellend. Wer in einer „normalen“ Schlägerei, am besten noch alkoholisiert, einen anderen verletzt, dessen Personalien werden aufgenommen und er verlässt als freier Mensch die Szene. Dieses Verhalten kann er noch einige Male wiederholen, ohne dass Untersuchungshaft angeordnet wird. Natürlich ist diese „Einsicht“ nur ein Trick. Menschliches Verhalten hat immer Gründe. Wie gut oder schlecht diese Gründe sind, darüber lässt sich streiten. Aber es ist nicht so, dass einige Menschen „Einsicht“ haben und andere nicht. Dass diese „Einsicht“ nur ein Trick ist, sieht man am Beispiel des (gesundheits-schädlichen) Rauchens. Den Menschen, denen diese „Einsicht“ fehlt, müsste man nach psychiatrischer Logik das Rauchen verbieten. Denen mit Einsicht wäre es erlaubt. Einzige Funktion der Rede über „einsichtige“ bzw. „uneinsichtige“ Menschen ist, ein Mittel in die Hand zu bekommen, mit dem sich bei Bedarf entrechten lässt. Weiter wird behauptet, diese Menschen seien gefährlich für sich und vor allem für andere. Und zwar seien sie gefährlicher als „normale“ Menschen. Mehrfach hat man untersucht, ob dies zutrifft. Fast immer war das Ergebnis: Stimmt nicht. Menschen mit psychiatrischer Diagnose sind nicht gefährlicher für andere als Menschen ohne psychiatrische Diagnose. Und selbst wenn es so wäre, so wäre das eine Sippenhaftregelung. Ich werde nicht verurteilt, weil ich etwas getan habe, sondern weil ich einer bestimmten Gruppe angehöre.

Machtlosigkeit der „Kranken“ ist notwendige Bedingung der Psychiatrie

Der Willkürcharakter der psychiatrischen Ausgrenzung wird besonders deutlich, wenn man das Verhalten mächtiger Menschen betrachtet. Fast nie ist es einer psych-iatrischen Abwertung ausgesetzt. Ein Mensch in einer Machtposition kann sich fast beliebig aufführen. Niemand kommt auf die Idee, diese Person zu psychiatrisieren. Weil Machtlosigkeit eine notwendige Bedingung der Psychiatrisierung ist, sind Heranwachsende an der Schwelle zum Erwachsensein das traditionelle Opfer der Psychiatrie. Der Schutz der Familie, den sie als Kinder genießen, fällt weg, während sie noch dabei sind, sich eine Machtstellung als Erwachsener zu schaffen. Da nach dem parkinsonschen Gesetz das Hauptziel jeder Organisation ist, sich selber größer zu machen, hat die Psychiatrie inzwischen auch die alten Menschen und die Kinder als neue Opfer entdeckt. Durch den Zerfall des familiären Zusammenhalts und die verstärkte Berufstätigkeit der Frauen sind sie heutzutage wesentlich schlechter geschützt als noch vor 50 Jahren. Die Ritalin- (und inzwischen auch Neuroleptika- und Antidepressiva-) Gabe an „hyperaktive“ Kinder ist wieder so ein Schlaglicht. Wer es sehen will, kann es an diesem Beispiel sehen; wer es nicht sehen will, hat seine/ihre Gründe. Kinder werden als hyperaktiv abgewertet, wenn sie Eltern und/ oder Lehrer nerven, weil sie sich nicht so verhalten, wie es die Erwachsenen gerne hätten. Ein ganz normaler sozialer Konflikt also. Rein medizinisch wäre es genauso einfach, wenn Eltern/Lehrer sich mit Valium oder Alkohol dämpfen, um die Konflikte mit den Kindern besser zu verkraften. Da das Machtverhältnis aber eindeutig ist, müssen die Kinder die körper- und seelenschädigenden Drogen schlucken. 40 Jahre ist es her, dass ich zur Grundschule ging. Meistens waren es damals Lehrerinnen, deren Autoritätsprobleme dazu führten, dass einige der Jungen über Tisch und Bänke sprangen. Irgendwann kam dann der Direktor, verteilte Ohrfeigen und nahm die Rangen mit. Bei dem saßen sie dann mucksmäuschenstill. Zuschlagen ist zwar auch nicht schön, aber ehrlich. Das Kind sieht, hier tut mir jemand etwas Böses. Gefährliche Drogen verteilen (richtig: aufzwingen), die angeblich zum Wohle der unter Drogen Gesetzten sind, ist abgrundtief verlogen. Natürlich wirkt Ritalin, aber das tun Ohrfeigen auch. Und, sie werden es nicht glauben, sogar eine vernünftige Erziehung wirkt.

Die Legalisierung der Entrechtung

Die Entrechtungen „psychisch Kranker“ sind vor allem in den Unterbringungs-gesetzen der Länder und in den §§ 1896 bis 1908 des Bürgerlichen Gesetzbuchs verankert. Beides sind Sondergesetze gegen „psychisch Kranke“ und „geistig Behinderte“. In § 1896 Absatz 1a BGB steht der Satz: „Gegen den freien Willen des Volljährigen darf ein Betreuer weder bestellt noch eine Betreuung aufrechterhalten werden.“ An dieser Stelle ist der oben beschriebene Trick mit der „Einsicht“ Gesetz geworden. Für den Laien sieht es zwar so aus, als könne kein Volljähriger zwangsweise betreut werden, doch der Betrug verbirgt sich im Wort „frei“. Man unterstellt den (zukünftigen) Opfern psychiatrischer Gewalt, ähnlich wie Tiere nur einen „natürlichen“ bzw. „erklärten“ Willen zu haben. Einen natürlichen Willen hat nach dieser Sichtweise z.B. ein Tier, das aus dem Käfig flieht. Wem die „Einsicht“ fehlt, der hat auch keinen „freien“ Willen. Mit dem/der dürfen dann „Helfer“ machen, was sie für richtig halten. Selbstverständlich nur zum Wohl des/der Geholfenen. Dieses Wohl der Betreuten, Zwangsunterbrachten und Zwangsbehandelten wird immer wieder gebetsmühlenhaft angeführt. Wohl wissend, dass man gegen den Willen der Entrechteten handelt. Selbst nach offizieller Zählung (Bundesjustiz-ministerium) sind etwa 20% aller Psychiatrieaufenthalte unfreiwillig. Hinzu kommt die große Zahl derjenigen, die mit Bedrohungen, Nötigungen und Erpressungen zu „freiwilligen“ Psychiatrieaufenthalten gezwungen werden. Das sind noch mal ein bis zwei weitere Fünftel. „Wenn Sie nicht freiwillig bleiben, der Richter macht sowieso, was wir wollen“. Stimmt. Als „psychisch Kranker“ ist man nur noch ein willenloser Körper. Selbst wenn sich mal ein Richter über die geordnete und ruhige argumentative Gegenwehr eines Opfers wundert: „Das ist Teil seiner/ihrer Krankheit“. Der Richter, der rein rechtlich Herr des Verfahrens wäre, ist tatsächlich oft nur der Schreibgehilfe des Arztes.

Wohl und Wehe

Wie sieht es nun mit diesem Wohl aus? Sind die gewaltsam durchgesetzten Maßnahmen wirklich zum Wohl der von ihnen Betroffenen? Eine große epidemiologische US-Studie[1], dass Menschen, die sich dauerhaft in psychiatrischer Behandlung befinden, 25 Jahre Lebenserwartung gegenüber dem Durchschnitt der Bevölkerung verlieren. 25 Jahre verkürzte Lebenserwartung, das ist mehr Unterschied in der Lebenserwartung als zwischen Bürgern Deutschlands (78) und des Sudans (58). Dort beträgt der Unterschied laut dem 2005er Fischer- Weltalmanach 20 Jahre. In Bangladesh beträgt die Lebenserwartung 62 Jahre. Wer also als Bürger der ersten Welt dauerhaft in die Hände der Psychiatrie fällt, hat eine schlechtere Lebenserwartung als ein Sudanese oder Bangladeshi. Wir Psychiatrie-Erfahrenen führen dieses fürchterliche Ergebnis auf die hemmungslose Gabe von Psychopharmaka, insbesondere von Neuroleptika, zurück. Der Psychiater Dr. Volkmar Aderhold, langjähriger Oberarzt im Klinikum Hamburg-Eppendorf, hat dankenswerter Weise Untersuchungen insbesondere zur Mortalität unter Neuroleptika gesammelt.[2]

Ein Auszug:

Anzahl Neuroleptikarelatives Mortalitätsrisiko nach Abgleich konfundierender Faktoren im Vergleich mit Bev.Konfidenzintervall
01,29(95% CI 0.53–3.11)
12,95(95% CI 1,64–5,38)
23,21(95% CI 1,93–5,95)
36,83(95% CI 3,40–13,71)

Diese massive Schädlichkeit der psychiatrischen Behandlung ist auch der Hauptgrund, warum die Behandlung so oft aufgezwungen werden muss. Natürlich merken die Opfer der Folter (der Eingriff in den Körper gegen den Willen der Person ist Folter), dass ihnen geschadet wird. Nicht einmal das Strafrecht kennt diesen erzwungenen Eingriff in den Körper. So selbstverständlich war die Abschaffung der Folter zur Zeit der Niederschrift des Grundgesetzes bereits, dass diese nicht ausdrücklich im Grundgesetz erwähnt wird. Nur in den Psychiatrien wird seit Jahrzehnten munter weitergefoltert. Bei vielen derjenigen, die sich freiwillig (also auch ohne Drohungen) psychiatrisch behandeln lassen, ist schlicht der Wille gebrochen. Sie haben den Terror verinnerlicht und sind, weil es das Leben so leichter macht, der Meinung, ihnen werde geholfen. Ähnliche Effekte sind aus der Geschichte der Sklaverei bekannt. Zwar wäre es statt all der Verdrehungen von Recht und Sprache einfacher, einen §0 des Grundgesetzes zu schaffen: Es gibt Menschen erster Klasse und Menschen zweiter Klasse. Fachärzte für Psychiatrie entscheiden in Anwesenheit eines Richters, wer zu welcher Klasse gehört. Nur die Menschen erster Klasse werden im folgenden kurz Menschen genannt.

[1] Mortalitätsstudien online unter http://psychrights.org/index.htm

[2] Aderhold, Volkmar, Mortalität durch Neuroleptika, BPE Rundbrief 8/2007