Stellungnahme des Vorstands Bundesverband Psychiatrie- Erfahrener

Betreff: Psychiatrie in Corona Zeiten

Zusammenfassung: Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrene verfolgt die Situation der Psychiatrien und Psychiatrie-betroffenen in der Covid-19-Pandemie. Selbsthilfestrukturen brechen nachhaltig zusammen, während psychisches Leid und psychiatrische Diagnosen innerhalb des Diskurses um Covid-19 weiter stigmatisiert werden. Das allgemeine Erleben von Krisen nimmt allerdings zu. Somit birgt die Pandemie die Chance, dass mehr Verständnis dafür entsteht, dass psychische Krisen keine rein biologisch zu betrachtende Zustände sind, sondern auch gesellschaftliche Faktoren zugrunde liegen. Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung sind in der Regel Krisen-erfahren und unser Wissen sollte für alle, die nun schwere Zeiten durchmachen, zugänglich sein. Deshalb müssen die Selbsthilfestrukturen gerade jetzt mehr denn je gestärkt werden und die digitale Teilhabe sollte selbstverständlich umgehend als Teilhabeleistung mit aufgenommen werden.

Wir als Vorstand des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener (BPE) möchten Stellung nehmen zu den Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie im Zusammenhang mit den Verhältnissen für Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung.

Der BPE wurde ins Leben gerufen, um die Situation von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen auf allen Ebenen zu verbessern und für die Wahrung der grundlegenden Menschenrechte innerhalb der Psychiatrie zu sorgen. Gleichsam verfolgen wir das Ziel, Vorurteile und die aus ihnen resultierenden Stigmata Psychiatrie-Erfahrenen gegenüber abzubauen.

Dass Fixierung und medikamentöse Zwangsbehandlung diesen Grundsätzen grundlegend widersprechen, liegt auf der Hand. Zwang und Gewaltanwendung in der Psychiatrie sind schon lange zentrale Themen in der Selbsthilfebewegung und somit auch für den BPE. Dieser Bereich erlangte im Zusammenhang mit Covid-19 durch Pressemeldungen des RBB mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Einem Bericht der Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie im Land Berlin zufolge hat die Zahl der Beschwerden in Bezug auf Zwang und Gewaltanwendungen zugenommen. (1)

Wir möchten ausdrücklich darauf verweisen, dass jedwede Form von Fixierung und Zwangsbehandlung im Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention steht, welche die Regierungsvertreter*innen für die Bundesrepublik Deutschland ausnahmslos ratifiziert haben. (2)

Das bedeutet, dass Zwangsbehandlungen nicht nur in Zeiten von Covid-19, sondern allgemein nach diesen Kriterien unzulässig sind.

Nach Aussage von Petra Rossmanith von der deutschen Gesellschaft für Sozialpsychiatrie wird in Berlin alle 2-3 Stunden eine Patientin an ein Bett gefesselt. Seit Beginn der Corona-Pandemie waren es allein in Berlin 3300 gerichtliche Anträge auf Fixierungen in Berliner Psychiatrien. (3)

Doch nicht nur die erhöhte Anwendung von Gewalt und Zwang ist ein Problem für diejenigen, die sich gerade in stationärer Behandlung befinden. Durch die Hygiene-Maßnahmen entstandenen Umgangs- und Besuchsverbote in Krankenhäusern, welche zu zunehmender Vereinsamung der Betroffenen führte. Diese wirkt sich negativ auf ihre Stabilisierung aus (4). Wir fordern, dass ein Aufenthalt in der Psychiatrie generell nur freiwillig erfolgen soll. Zudem fordern wir, dass die Besuchsverbote unverzüglich aufgehoben werden müssen! Auch in Beratungsstellen ist der Kontakt mit zur Zuhilfenahme von Plexiglas-Wänden erfolgt, wenn dies nicht umsetzbar ist muss alternativ ein (unter Umständen) begleiteter Besuch unter freiem Himmel erfolgen, damit die Betroffenen nicht noch zusätzlich zu ihren Krisen unter Entzug von persönlichen Kontakten leiden.

Zudem wird dadurch noch intransparenter, was hinter den verschlossenen Türen der Psychiatrie passiert.

Auch die Stigmatisierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen nimmt in Zeiten von Covid-19 ein neues Ausmaß an. So wird nicht nur in der Presse (5), sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs (6) das Anhängen von rechten Verschwörungstheorien oftmals mit einer psychiatrischen Diagnose gleichgesetzt. Dies stigmatisiert Psychiatrie-Erfahrene in erheblichem Ausmaß in einem stetig wiederkehrenden Turnus! Selten werden diese Gleichsetzungen hinterfragt. Und dies in einer Zeit, in welcher nachweislich immer mehr Menschen schwerwiegende psychische Probleme haben:

Einer Studie nach wurden seit Beginn der Corona-Pandemie 3x mehr Menschen mit einer „depressiven Symptomatik“ diagnostiziert als vorher und auch die „Angststörung“ ist in aller Munde (7). Einsamkeit, Existenzängste und Unsicherheit, was die persönliche sowie gesellschaftliche Zukunft betrifft, sind offensichtliche Auslöser für den drastischen Zuwachs der Fallzahlen.

Dies beweist immerhin, dass Depression offensichtlich doch keine rein biologistisch zu verortende Stoffwechsel-Erkrankung des Gehirns ist.

Konsequenzen für die Selbsthilfe:

Wir sind angesichts des Wegfalls von Selbsthilfegruppen, als Konsequenz aus den Hygiene-Maßnahmen äußerst besorgt:

In Selbsthilfegruppen wird seit Jahrzehnten in Deutschland kritisch mit Diskriminierung und Stigmatisierung umgegangen. Sie sind von Verständnis, Empathie und gegenseitiger Unterstützung geprägt. Als sozialer Raum bieten sie langfristig Rückhalt und Hilfe außerhalb des psychiatrischen Hilfesystems.

Bundesweit sind durch die Abstandsregelungen diese Strukturen von einem auf den anderen Tag weggefallen. Viele ambulante oder niederschwellige Angebote (Ambulanzen, Tageskliniken etc.) haben zugemacht und fallen somit in einer Krise weg. Der Versuch einer Etablierung von Online-Angeboten konnte dies nicht aufhalten.

Menschen mit psychiatrischen Diagnosen haben oft nicht denselben Zugang zur digitalen Welt wie diejenigen ohne Psychiatrie-Erfahrung. In Zeiten von Corona heißt es mehr denn je: keine gesellschaftliche Teilhabe ohne digitale Teilhabe. Zu diesem Ergebnis kam jüngst auch eine umfangreiche Studie der Aktion Mensch (8), bei der die Chancen der Digitalisierung für Inklusion klar deren Nachteile überwogen haben. Doch für viele (Psychiatrie-Erfahrene) Nutzer*innen von Selbsthilfegruppen ist die theoretische Teilhabe an der digitalen Welt in der Zukunft nichts, woraus sie in der Gegenwart realen Nutzen ziehen können.

Die Selbsthilfegruppe als sozialer Raum, der Heilung und Zuversicht der Betroffenen stärkt, wurde kurzum ersatzlos gestrichen.

Fördergelder seitens der Krankenkassen werden nicht mehr gewährt, Mietverträge für Räumlichkeiten verfallen.

Wir beobachten mit Sorge, dass eine selbstorganisierte Hilfestruktur in einer Zeit bedroht wird, in der sie so sehr gebraucht wird.

Psychiatrie-Erfahrene haben einen immensen Fundus an Erfahrungswissen angesammelt, der zum Nutzen der Allgemeinheit eingesetzt werden kann.

Selten war die Notwendigkeit, dieses Erfahrungswissen für das Allgemeinwohl erfolgreich einzusetzen, offensichtlicher als in Zeiten der Covid-19-Pandemie. Wir Psychiatrie-Erfahrenen wissen am besten, wie sehr eine Krise zur Chance werden kann und können dies auch anderen erfolgreich vermitteln.

Der BPE berät bereits an 6 Tagen in der Woche rund um das Thema Selbsthilfe bei psychischen Krisen (9). Wir sehen es als zwingend erforderlich an, die bestehenden Selbsthilfe-Strukturen zu stärken und neue Angebote für Hilfesuchende auf den Weg zu bringen. Wir appellieren an alle Menschen, die diese Zeilen lesen, sich einzubringen, um an diesem Prozess mitzuwirken. Gleichsam fordern wir die politischen Entscheidungsträger*innen auf, einen Schritt auf die Selbsthilfebewegung Psychiatrie-Erfahrener zuzugehen, statt durch eine Politik der Sparsamkeit ihrem Zerfall zuzuarbeiten.

Zwangseinweisungen für den Infektionsschutz:

Ebenfalls mit Sorge beobachten wir, dass im Rahmen von sogenannten ‘Quarantäne-Verweigerern’ von Zwangseinweisungen unter anderem in dafür bereitgestellte Kliniken gesprochen wird. Im deutschen Ärzteblatt vom 17.1.2021 heißt es vom Sprecher des Gesundheitsministeriums in Stuttgart beispielsweise: “‘Die zwangsweise Unterbringung ist kein neues Instrument, sie konnte auch bisher schon angeordnet werden und wurde in Einzelfällen auch bisher schon angeordnet. Es handle sich dabei nicht um eine Strafmaßnahme, sondern um eine Maßnahme des Infektionsschutzes.” (10)

Die unklare Abgrenzung zwischen einer Logik der Strafe und Kontrolle sowie einer gesundheitlichen Argumentation ist schon bei Zwangseinweisungen in Psychiatrien gegeben. Eine Erweiterung von Zwangseinweisungen als politisches Instrument sehen wir als bedenklich an. Psychiatrie wird in den öffentlichen Debatten (noch) mehr oder

offensichtlicher als Ort der korrektiven Bestrafung gesellschaftlich unerwünschten Verhaltens gesehen. Es scheint also nicht um eine gesundheitliche Versorgung zu gehen.

(Diese Stellungnahme ist als gemeischaftliches Projekt vieler Menschen in und um den BPE in einem”Etherpad” entstanden. Herzlichen Dank an alle Mitwirkenden)

Quellen:

(1) https://www.rbb24.de/panorama/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/12/berlin-psychiatrie-beschwerden-corona-pandemie.html

(2) https://www.behindertenrechtskonvention.info/

(3) https://www.dw.com/de/besuchsverbot-wegen-corona-einfach-nur-unmenschlich/a-53066132

(4) https://taz.de/Umgang-mit-Verschwoerungsideologie-QAnon/!5704540/

(5) https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/a-1130-7769

(6)https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/news-archiv/meldungen/article/experten-zunahme-von-depressionen-und-angststoerungen-durch-corona/

(7)https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2770146

(8 https://www.aktion-mensch.de/inklusion/barrierefreiheit/studie-digitale-teilhabe.html

(9) https://bpe-online.de/kontakt-beratung/

(10) https://www.aerztezeitung.de/Politik/Bundeslaender-planen-Zwangseinweisung-fuer-Quarantaene-Verweigerer-416299.html

https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/strobl-will-quarantaeneverweigerer-zwangseinweisen-100.html

https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/polizei-bringt-quarantaene-verweigerer-in-corona-krankenhaus-100.html