Zur Beantwortung dieser Frage gilt es eine Reihe von Umständen gegeneinander abzuwägen. Häufig ist eine verbesserte Lebensqualität auch durch ein schrittweises Reduzieren der bislang eingenommenen Psychopharmaka auf eine niedrigere Dosis zu erlangen. Es gibt nicht nur die zwei Möglichkeiten ganz oder gar nicht.

Folgende Fragen sollten bei einer Entscheidung berücksichtigt werden

  1.  Wie ist meine Lebensqualität jetzt?
  2. Wie schlimm war die Ver-rücktheit oder Niedergeschlagenheit, derentwegen ich mit dem Psychopharmakakonsum begann?
  3. Haben die Psychopharmaka in der Akutsituation wirklich geholfen oder erfolgte eine Verbesserung meines Zustands erst nach vielen Monaten der Einnahme?
  4. Ist eine Vorbeugewirkung der Psychopharmaka bei mir vorhanden?
  5. Gibt es Lebensumstände, die mir so auf der Seele liegen, daß es kein Wunder ist, daß es mir schlecht geht?
  6. Kann (will) ich diese Lebensumstände ändern?
  7. Würde ich diese Lebensumstände ändern, wenn es mir (noch) schlechter ginge?
  8. Wieviel Energie habe ich bislang in die Änderung meines Lebens gesteckt?
  9. Wieviel Hoffnung habe ich bislang darein gesetzt, daß mir (nur) das richtige “Medikament” hilft?
  10. Was wären die beruflichen und privaten Folgen einer erneuten Ver-rücktheit (Niedergeschlagenheit)?
  11. Sind frühere Absetzversuche gescheitert?
  12. Wenn ja, was ist heute anders und was kann ich heute anders machen, daß ich diesmal nicht scheitere?

 Bemerkungen zu den Fragen

  1.  Ist die Lebensqualität gut oder ausgezeichnet, bleibt noch das Argument möglicher Langzeitschäden um abzusetzen. Drogen- oder “Medikamenten”freiheit ist kein Wert an sich, man will länger und besser leben. Geht das mit Psychopharmakaeinnahme, soll man es tun.
  2. Die meisten Ver-rücktheits- oder Niedergeschlagenheitszustände sind nicht so schlimm, als daß sie die vorbeugende Einnahme hochriskanter Neuroleptika oder Antidepressiva rechtfertigen. Anders sieht es aus, wenn ich mich oder andere massiv geschädigt habe. Dann sollte ich mir vor dem Beginn des Absetzens ziemlich sicher sein, daß das nicht wieder passiert.
  3. Eine Niedergeschlagenheit (Ver-rücktheit), die erst nach vielen Monaten ärztlicher Bemühungen verschwindet, hätte genausogut auch ohne diese Bemühungen verschwinden können. Es ist bekannt, daß diese Seelenzustände auch “von selbst” wieder “verschwinden” können.
  4. Psychiater/innen behaupten, eine Dauermedikation mit Neuroleptika oder Lithium habe eine vorbeugende Wirkung gegen Psychosen. Selbst wenn man die im Auftrag der Pharmaindustrie erstellten Studien, die diese Vorbeugewirkung “beweisen”, ernst nimmt, bleibt doch die Tatsache, daß viele Psychiatrie-Erfahrene trotz einer prophylaktischen (=vorbeugenden) Medikation immer wieder in der Psychiatrie landen. Wenn also eine Vorbeugewirkung im Einzelfall nicht vorhanden ist, gibt es auch keinen Grund, die Risiken der Dauermedikation in Kauf zu nehmen.
  5. Psychiater/innen reden lieber über Neurotransmitter oder mysteriöse Krankheiten als über Einsamkeit, Partnerschaftsprobleme, Mobbing, Prüfungsstress, Liebeskummer oder die Sinnlosigkeit des Lebens. Davon versteht nämlich fast jede/r was. Und dazu braucht es leider auch keine hochbezahlten Spezialisten.
  6. Wenn ja, dann braucht es nach einer Änderung vielleicht auch keine Drogen, pardon Medikamente mehr. Oft scheitern Absetzversuche daran, daß die der Ver-rücktheit oder Niedergeschlagenheit zugrunde liegenden Probleme nicht gelöst wurden. Oft haben die Psychopharmaka das Problem nur aus dem Blickfeld gedrängt. Aber Vorsicht: Nicht für jedes Problem gibt es eine Lösung. Und: Nicht jedes Problem ist für jeden Menschen lösbar. Besser mit Psychopharmaka halbwegs erträglich leben, als nach unüberlegtem Absetzversuch mit noch mehr Psychopharmaka eine massive Einbuße der Lebensqualität erleiden.
  7. Wenn nein, in Ordnung. Wenn ja, bedeutet das, meine Lebensumstände haben etwas mit meiner Befindlichkeit zu tun. Auch jetzt schon, wo es mir (noch) nicht ganz schlecht geht. Auch jetzt könnte ich an den Lebensumständen (Arbeit, Wohnen, Freundschaften, Beziehung, Einsamkeit usw.) etwas verändern. Vorsicht: Verändern ist nicht dasselbe wie verbessern.                                        
  8. Wenn viel: Habe ich die Energie an der richtigen Stelle investiert? Beispiele: Einen Berufsabschluss oder eine Berufstätigkeit anstreben, der/die für mich selbst in unerreichbarer Ferne liegt. Obwohl die dritte Therapie auch wieder nichts gebracht hat, alle Hoffnung darein setzen, daß es die vierte Therapie bringen wird. Wenn wenig oder gar keine: Warum nicht? Gab es wichtigeres zu tun? Haben mir die Psychopharmaka alle Kraft geraubt? War es die Diagnose “psychisch krank”, die mir alle Anstrengungen vergeblich scheinen ließ?
  9. Wenn viel: Ein Fachmann (Friseur, Installateur, Arzt, Steuerberater) wird deswegen konsultiert, weil er etwas besser kann als man selbst. Erfolge qualifizieren, nicht ein Berufsabschluß. Seelische und soziale Probleme zu unheilbaren psychischen Krankheiten umdeuten und davon reden, daß die Wissenschaft noch nicht so weit sei, kann der blutigste Laie. Erfolge machen den Experten aus und sonst nichts.
  10. Absetzen bedeutet eine Chance, beinhaltet aber auch ein zusätzliches Risiko. Wenn z.B. eine wichtige Prüfung kurz bevor steht, ich heiraten möchte oder sonst etwas Wichtiges in den nächsten Monaten vorhabe, sollte ich mir überlegen, ob ich diese Vorhaben diesem zusätzlichen Risiko aussetzen will. Was spricht dagegen, bis nach dem wichtigen Ereignis mit dem Absetzen zu warten?
  11. Wenn nein, in Ordnung. Wenn ja, warum? Diese Frage ist wichtig. Ich setze nicht ab, um abzusetzen, sondern damit es mir dauerhaft besser geht.
  12. Häufigster Fehler ist zu schnelles Absetzen. Je länger der Konsum gedauert hat, um so mehr Zeit sollte in das Absetzen investiert werden. Wer 10 Jahre lang Psychopharmaka genommen hat, kann sich durchaus ein Jahr fürs Absetzen Zeit lassen.

Nachbemerkung: Drei drogenfreie Monate ohne Ver-rücktheit oder Niedergeschlagenheit heißen nicht viel. Ab 12 Monaten ohne Psychopharmaka weiß man, daß die Entscheidung zum Absetzen nicht völlig verkehrt war. Auch nach Monaten oder Jahren der Drogenfreiheit können neue Ver-rücktheits- oder Niedergeschlagenheitszustände auftreten.